Schülerzeitung Splitter des Gymn.Nepomucenum in Coesfeld, Nr. 12, 1968

Kapitalismuskritik in der Schülerzeitung

Archivfund wirft ein Schlaglicht auf intergenerationelle Diskussionskultur

In der Nr. 12 des Jahrgangs 1968 wurde in der Coesfelder Schülerzeitung SPLITTER der Text einer kapitalismuskritischen Parodie auf das Vater unser veröffentlicht, das bei einem vom SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbund) organisierten sogenannten Go-in während eines Gottesdienstes in der Hamburger St.-Michaelis-Kirche gemeinsam gesprochen worden war. Ein Redaktionsmitglied des SPLITTER hatte den Text im katholischen Liboriusblatt gefunden und in der Redaktionssitzung zur Diskussion gestellt.

Weil sich die Redakteure nach eigenem Bekunden nicht in der Lage und kompetent fühlten, einen Kommentar zu der Parodie abzugeben, druckten sie den Text unter der einleitenden Frage „Was halten Sie davon?“ ganzseitig ab.

„Das kapitalistische Vater unser hatte seinerzeit in Coesfeld eine Diskussion ausgelöst, die über das Gymnasium Nepomucenum weit hinaus reichte und sogar den WDR mit einem Ü-Wagen auf den Plan rief“, konstatiert Christiane Cantauw, Geschäftsführerin der Volkskundlichen Kommission. „Für unser Forschungs- und Ausstellungsprojekt sind solche Funde in Schülerzeitungen vor allem deshalb interessant, weil sie ein sich veränderndes Selbstbild der Schüler zum Ausdruck bringen. Sie wollten mit Eltern und Lehrern über das Thema ‚Kapitalismus‘ ins Gespräch kommen. Leider haben die Erwachsenen die Schüler als Diskussionspartner nicht ernstgenommen und kritisiert, dass die Veröffentlichung des kapitalistischen Vater unsers religiöse Gefühle verletze.“  

Letztlich ist die Vater-unser-Parodie in der Schülerzeitung SPLITTER ein Beleg für einen gesellschaftlichen Wertewandel, der – vielleicht wegen seiner provozierenden Form?  – in der münsterländischen Provinz 1968 selbst bei den Schülern eher Unsicherheit als  ungeteilte Zustimmung hervor rief.

Die Schülerzeitungsredakteure stießen mit ihrem Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung über das Thema Kapitalismus als Ersatzreligion zunächst auf taube Ohren. Erst bei den Alumni Nepomuceni fand ihr Diskussionsbeitrag Resonanz. Dass es gerade zwei akademisch arrivierte Ehemalige waren, die sich durch den Beitrag zu einer Meinungsäußerung in der Schülerzeitung aufgefordert fühlten, werden die SPLITTER-Redakteure im Nachhinein als Bestätigung empfunden haben.  

Christiane Cantauw

 

Publikationsdatum: 03.05.2017

Themen: Neufunde